Meine Lieblingsomi Marli musste lange warten bis ihr Liebster endlich aus der Kriegsgefangenschaft heim kam. Er kam spät und er kam krank aus Russland zurück. Wollte nie darüber reden, wir wussten nur, sie mussten „Gras fressen“ um zu überleben. Als der Magen wieder halbwegs an Nahrung gewöhnt war, wurde schnell geheiratet. Für Kleidung war kein Geld da. Die Verwandten legten an Nahrung zusammen, was gerade da war und das Kleid kam von der Tante. Und ein Fotograf machte das Erinnerungsfoto. Das Schwarz-Weiß-Foto liegt heute noch bei mir im Regal. Wir waren in den letzten Jahren Freundinnen geworden, haben uns viele Erlebnisse erzählt. Die Erinnerung bleibt wach, durch alte und neuere Fotos. Wer blättert nicht gerne in einem Familienalbum, mit kleinen Texten erhält es über viele Jahrzehnte die Erlebnisse mehrerer Generationen.

Die Zeit bleibt stehen
Ich bekomme sehr oft alte Fotos zum reproduzieren und restaurieren ins Geschäft. Manchmal um sie den Verwandten zu schenken, manchmal für die Beerdigung. Egal wie viel gerade zu tun ist, wieviele Leute im Geschäft warten, wenn ein altes SW-Bild auf meinem Schreibtisch landet, bleibt kurz die Zeit stehen, Man schwelgt in der Erinnerung, Vergangenheit wird wieder lebendig. Oft steht ein Datum auf der Rückseite, machmal kann man an der Kleidung erkennen, aus welcher Epoche das Foto möglicherweise stammt. Eine spannende Zeitreise. Ich liebe es Knicke, Risse, fehlende Ecken zu reparieren, retuschieren und vor allem Gesichter wieder herzustellen. Dafür muss man ganz in Ruhe arbeiten, immer wieder das Gesamtbild begutachten, dann wieder stark vergrößern, damit man detailgetreu den Urzustand wiederherstellen kann.

Alles digital heutzutage?
Die vermutlich erste Fotografie der Welt „Blick aus dem Arbeitszimmer“ entstand im Frühherbst 1826. Seitdem hat sich viel verändert. Fast jeder kann mit seinem Handy knipsen oder hat eine kleine Digitalkamera in der Tasche. Tausende Bilder werden geschossen, inflationär – der Überblick geht verloren. Falls überhaupt werden die Unmengen Bilder auf dem PC gespeichert und liegen da, bis sie jemand aus Platzmangel löscht. Kaum jemand nimmt sich die Zeit die guten Bilder heraus zu sortieren und nur noch wenige bestelle dann noch richtige Papierbilder. Besonders ältere Leute beklagen den Mangel an einem Erinnerungsfoto das man in der Hand halten und an die Wand hängen oder ins Album kleben kann. Aber eine Trendwende hat bereits begonnen.

Wieviel Schicksal erträgt ein Mensch?
Marlies Sohn stirbt mit 24 bei einem Verkehrsunfall. Alles was neben dem lebenslangem Kummer bleibt, sind ein paar Schnappschüsse. Der Vater hatte eine gute Kamera und machte bei Familienfesten und Ausflügen gerne ein paar Bilder. So ein 36er Film war ja schnell voll. Man fotografierte gezielt und überlegt. Die Erinnerung verblasst mit der Zeit, aber aus den Fotos strahlt sein fröhliches Lachen. Deswegen sind solche Fotos ein generationenübergreifendes, bleibendes Vermächtnis. Zwei Jahre bevor Marlie ins Pflegeheim musste, stirbt ihr Mann und kurz danach auch der letzte verbliebene enge Vertraute, Ihr Hündchen Benji. Ihre immer fröhliche und offene Freundlichkeit verblasste mit den Jahren wie ein altes SW Bild, die Besuche wurden zu wenig, sie hörte zu sprechen auf und verstarb schließlich letzen Sommer. Eine Handvoll Verwandte standen traurig am Grab, ihr fröhliches Foto hängt noch immer an meiner Wand.

Niemand wird am Dachboden eine 60 Jahre alte SMS finden, aber die Liebesbriefe und Bilder die Marli aus dem Krieg geschickt bekam, bleiben.